ReportageWir sind mehr
02.09.2018 – 17.48Uhr
Eine SMS erreicht mich. Wenige Stunden später sitze ich im Albani - dem ältesten Club der Stadt - und plane gemeinsam mit Freunden eine Reise nach Chemnitz. Weil Chemnitz uns alle etwas angeht. Weil der braune Mob sich nicht in der Mehrheit glauben soll. Weil die AfD und ihre europäischen Mitstreiter keine Allmachtsfantasien entwickeln dürfen. Ganz einfach…Weil es sich richtig anfühlt und weil Beiträge wie diese schockieren; und mich, der ich in den 90ern in Delitzsch, Chemnitz und Leipzig aufwuchs, an Zeiten erinnern, die ich vorbei glaubte:
Neben mir sitzen Olivia, Jonas, Dylan und Pelli. Wir blicken uns entschlossen an, wortlos bekräftigend, dass es schon gut ausgehen wird. Einige Biere später steht alles. Das Auto stellt ein Freund Pelli`s. Die Übernachtung ist geregelt: Irgendwo in Leipzig, abseits der Hotspots und möglichen Brennpunkte. Die Akkreditierungen hat Olivia vorab organisiert. Wir teilen Aufgaben auf. Ich kontaktiere Leipziger Aktivisten, stelle Kontakte nach Chemnitz her. Hoffe auf Gesprächspartner vor Ort, die alltäglich gegen Rassismus aufstehen.
03.09.2018 – 06.00Uhr
Die Nacht war kurz. Die Fahrt wird lang. Sieben Stunden Autofahrt stehen uns bevor. Etwas ungewiss was uns erwarten wird, beobachten wir die sozialen Medien. Auf Twitter rufen Pro Chemnitz Aktivisten dazu auf, am Konzert teilzunehmen.
«Ich mag Feine Sahne-Fischfilet - war schon als Kind mein Lieblingsessen»Martin Kohlmann | Pro Chemnitz
Gleichzeitig organisieren sich Konzertbesucher. Mitfahrgelegenheiten aus nahezu allen grösseren deutschen Städten werden gesucht und angeboten. Flixbus offeriert freie Fahrten nach Chemnitz. Blabla-Car schliesst sich mit Gutscheinen an. In der Zwischenzeit hat sich Martin Neuhof Mitgründer von No Legida gemeldet. Wir verabreden uns Zwecks Gespräch auf dem Gelände. Ebenfalls zugesagt haben Marco ( Bündnis Chemnitz Nazifrei ) und Jürgen Kasek (Anwalt und Mitarbeiter des Aktionsnetzwerks, “Leipzig nimmt Platz”, politisch aktiv bei den Grünen). Es mischt sich eine Portion Nervösität zum Wunsch die Dinge vor Ort verstehen zu wollen, Antworten zufinden und selbst ein kleiner Teil der Gegenbewegung zu sein.
03.09.2018 – 14.00Uhr
Chemnitz wirkt verschlafen. Uns grüssen Bauruinen und ein warmer Ostwind. Die wenigen Anwohner, die wir zu Beginn noch antreffen, bewegen sich in der Altstadt und gehen alltägliche Tätigkeiten nach. «Ich habe mich vom Staub gemacht die letzten Tage», sagt die Taxifahrerin, eine Frau Mitte fünfzig, die nichts von all dem hält, was in den Tagen zuvor passiert ist. Als ginge es sie nichts an, als sollte es Chemnitz nichts angehen, wimmelt sie ab und klagt über unangemessen hohe Medienpräsenz. Mittlerweise sitzen Olivia und ich in der Stadthalle und erwarten die Künstler zur Pressekonferenz. Es müssen mehr als 100 von ihnen sein.
«Natürlich wissen wir, dass es damit nicht gemacht ist.»Campino
Ganz Deutschland schaut auf Chemnitz. Halb Europa schielt rüber. Fragen zur Sicherheit werden seitens der Verantstalter kurzatmig beantwortet: «Wir gehen davon aus, dass nichts geschehen wird.» Man will keine Zweifel aufkommen. «Wir arbeiten eng mit den Künstlern und den Veranstaltern zusammen», wird uns später der Polizeisprecher vor Ort ins Mikrofon sprechen. »Die Zusammenarbeit sei sehr kollegial». An mir drückt sich Materia vorbei, hinter ihm Campino und Co. Sie gehen zum Podest, setzen sich vor die Mikrophone und es beschleicht mich der Eindruck, als sei man widerwillig hier in diesem Raum, vor diesen Mikrophonen, die nicht die ihren sind, als wären sie lieber draussen…als wollten sie sich und ihr Konzert nicht erklären müssen, nicht rechtfertigen. «Natürlich wissen wir, dass es damit nicht gemacht ist. Dass dieser Abend die Probleme nicht lösen wird. Wir aber wollen all den Chemnitzern, die sich gegen den Rechtsruck stark machen, das Gefühl geben, dass sie nicht allein sind. Wir wollen ein Signal an alle hier aktiven Antirassisten senden und natürlich hoffen wir, dass unsere Botschaft bei einigen, die sonst nicht auf die Strasse gehen, hängen bleibt.”
03.09.2018 – 15.15Uhr
Die PK ist vorbei, wir wieder auf der Strasse, die sich nun gänzlich anders zeigt. Menschenströme aus allen Richtungen. Kein Ende in Sicht. Ich fühle mich an Grossdemos in Leipzig und Hamburg erinnert. Wir wollen mit Anwohnern sprechen, die aber sind rar. Beinahe alle, die wir ansprechen, kommen aus Restdeutschland. Es werden Blumen am Tatort gelegt, der Ort an dem Daniel H. starb. Der Ort, den die Rechte um Pro Chemnitz und AfD missbraucht, um ihre Ideologie auf die Strasse zu tragen. Der tragische Beginn der Ereignisse der letzten Wochen. Er wird geschützt von Polizisten, die sonst eher zurückgezogen das Geschehen beobachten. Väter mit Kindern auf den Schultern, laufen genauso an uns vorbei, wie junge Menschen mit Antifa-fahnen. Auf den Dächern, auf Laternen und Bäumen, in Treppenhäusern und auf mitgebrachten Stühlen sieht man sie.
Die Stimmung ist friedlich, freudig. Mann lächelt sich an und nickt, als wolle man sich etwas sagen: Schön, dass du hier bist. «Lasst uns heute Geschichte schreiben», schallt es von der Bühne. «lasst uns dem braunen Mob zeigen, wer wirklich in der Mehrheit ist, wem die Strasse gehört.» Ein grosser «Wir sind mehr» Banner wird durch die Menge gereicht. Ich werde des öfteren einfach umarmt. In den Ruhepausen zwischen den Gigs hört man Parolen der Antifa oder schlicht «wir sind mehr». Hatte ich zu Beginn etwas Sorge um Ausschreitungen oder Widerwillen uns «Medienvertretern» gegenüber; ist sie spätestens mit dem ersten Takt verschwunden. Ich fühl mich sicher, sicher in einer Stadt und einem Ort, an dem sich in den letzten Tagen kein Migrant, kein Aktivist oder Journalist hat so fühlen können. Das ist beeindrückend und tut sichtlich allen gut.
«Es fehlt sachsenweit ein klares Zeichen gegen Rechts und Rassismus.»Martin Neuhof
03.09.2018 – 20.00Uhr
In der Zwischenzeit haben Martin und ich uns gefunden. Wir stehen unweit der Polizeikette und etwas fern vom Konzert und unterhalten uns. Martin Neuhof ist Fotograf ( martin-neuhof.com / herzkampf.de ), vor allem aber einer, der laut wird, wenn es das braucht. Er gründete 2015 als Reaktion auf Legida (das Leipziger Pendant zur Pegida) eine Facebookgruppe aus der heraus eine Bewegung wurde: No Legida. «Innerhalb eines Tages hatten wir 10000 Abonnenten auf Facebook» und tausende in den Folgewochen auf den Strassen… Wir konnten so die legida Bewegung im Zaum halten und zu ihrer Auflösung beitragen.»
Sachsensweit sei die Politik dabei keine grosse Hilfe. “Die CDU packtiert hier eher mit der AfD. Man hat [als Aktivist gegen Rechte Gewalt und Hetze] eher das Gefühl man würde ausgegrenzt, denn eingeladen.” Einzig in Leipzig habe man es ein wenig leichter als der Rest Sachsens. Nicht zuletzt Dank dem Bürger Meister, Burkhard Jung, der auch aktiv an No Legida Veranstaltungen und Gegendemonstrationen teilnahm. “Es fehlt sachsenweit ein klares Zeichen gegen Rechts und Rassismus. Wenn man immer schweigt zu den Geschehnissen, spielt das der AfD und Pegida natürlich in die Karten.” In Chemnitz oder anderswo sei das Wunschdenken. Ganz im Gegenteil, die CDU Sachsen sei eher auf AfD-Linie und kriminalisiere den Protest. Diese Ignoranz der rechten Problematik gegenüber führe dazu, dass sich die Mitte der Gesellschaft – und das ist neu im Jahre 2018 – mit Nazis solidarisiert, dass sie zumindest schweigt, wenn Menschen an ihrer Seite marschieren, die unverblühmt den Hitlergruss zeigen, die Jagd auf Mitmenschen betreiben, die offen Gewalt und Widerstand gegen den Staat fordern.
«Das Grundgesetzt ist – und das scheinen heute einige vergessen zu haben – aus einer Abkehr zum Nationalsozialismus entstanden. Das ist die demokratische Basis auf der wir uns streiten dürfen und sollten.», sagt Jürgen Kasek und betont: «Weil man gegen Faschisten und Nazis ist, ist man nicht gleich links. Man in in erster Linie ein Verteidiger der Demokratie, ein Demokrat. Wir hatten in den 80er und 90ern ein grosses Problem mit Neo Nazis in Sachsen. Auch in Leipzig und Chemnitz. Es folgten dann eher ruhigere 2000er. Das neue heute ist, dass der Neo-Nazismus und das Zeigen von Hitlergrüssen in der breiten Bevölkerung auf einmal anschlussfähig geworden ist. Die Bürger haben teils überhaupt keine Scheu mehr sich mit organisierten Nazis auf die Strasse zu stellen. Dass ein erschreckender Fakt und ist im Vergleich zu den 90er Jahren schlimmer geworden.”
«Wir müssen Rassismus, diskriminierende Äusserungen aussen vor lassen und uns inhaltlich um die beste Lösung streiten»Jürgen Kasek
Man könne im Rahmen der Demokratie über alles reden. “Wir müssen Rassismus, diskriminierende Äusserungen aussen vor lassen und uns inhaltlich um die beste Lösung streiten. Das ist aber lange Jahre in Sachsen nicht passiert. Die sächsische Landesregierung, der seit 28 Jahren die CDU angehört, tut sich noch immer unheimlich schwer das Problem anzuerkennen. Natürlich ist die Politik in der Verantwortung.”
Kasek zeigt uns später den Ort an dem er gemeinsam mit 1500 Gegendemonstranten einem Angriff der Rechten ausgesetzt war. “Am Montag standen wir genau hier 6000 Nazis und Rechten gegenüber. Die Polizei war mit nur 500 Mann im Einsatz und konnte die Gegendemonstration nicht schützen. Die Situation ist völlig eskaliert. Wir sind angegriffen wurden und in der Nacht herrschte grosse Sorge.” Heute beim Soli-Konzert sei das Gefühl natürlich ein gänzlich anderes. “Ein Konzert mag nichts verändern, aber das Gefühl mit sich zu tragen, dass man nicht allein ist. Das ist total wichtig.”
Marco wird ebenfalls von der Landesregierung sprechen, deren Hilfe man im Kampf gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit vermisse. Dabei geht er – der Mitgründer des Bündnisses Chemnitz Nazifrei, die am heutigen Abend als Mitorganisator des Soli-Konzerts auftritt – weiter: “Wir haben hier immernoch Nazis, die in der NSU aktiv waren. Die NSU war ja nicht nur ein Zusammenschluss von 3-4 Nazis. Die ganze Sache ist nicht aufgeklärt und Chemnitz hat dabei eine wichtige Rolle gespielt. Es leben noch immer Nazis hier, die im NSU aktiv waren. Dazu kommen etliche rechte Kameradschaften, wie Sturm34 aus Mittweida, die jahrelang die Dörfer unsicher gemacht haben. 2018 ist der Zeitpunkt wo die ganze braune Suppe hier zusammenkommt. Wir müssen doch nicht mehr darüber reden, dass wir die bürgerliche Mitte auf die Strasse bringen müssen. Die bürgerliche Mitte ist hier längst auf der Strasse: bei der AfD und Pegida.”
Marco spricht und wird dabei von einem Kollegen geschützt, der unweit von unserem Interview Partner, die an uns vorbeiziehenden Menschenmassen beobachtet. Marco selbst bittet darum, dass wir ihn nicht filmen, auch wenn er sonst auf den Gegendemonstrationen nicht scheut sein Gesicht zu zeigen. Marco spricht und mir wird dabei bange. Ich weiss natürlich, dass der heutige Abend nur eine Ausnahme im alltäglichen Wahnsinn ist, der derzeit Chemnitz und andere sächsische Orte heimsucht. Trotzdem habe ich Gänsehaut, während ich ihm nickend zuhöre. Ich ziehe den Hut vor Marco, seinen Freunden, vor Politikern wie Jürgen Kasek und Martin, die heute repräsentativ für alljene vor uns standen, die hier täglich dem brauen Mob entgegentreten. Die trotz mangelnder Unterstützung versuchen Jugend und Bevölkerung auf das rechte Problem hinzuweisen, zu sensibilisieren und aufzuklären und die unter Gefahr selbst Opfer von Gewalt zu werden rausgehen und sich Pegida und Co. entgegenstellen.
03.09.2018 – 23:15Uhr
Wir stehen etwas verloren unweit der Gedänkstätte zwischen Polizisten und Krankenwagen und beobachten eine Gruppe junger Menschen, die um den Tatort versammelt linke Parolen rufen. Die Polizei schaut sich das Schauspiel eine Weile an, bittet dann die Versammlung aufzulösen. Und obgleich nach mehrfachem Bitten, die Menge noch immer beisammen ist, bleiben sie ruhig, die behelmten Einheiten und ziehen Teile ihrer Autos deeskalierend zurück. Niemand will diesen Tag, an dem 65000 Menschen friedlich zusammen kamen, feierten und einander und Chemnitz neue Kraft einhauchten, stören.
Und so ziehen auch wir uns zurück. Gen Hotel, nach Leipzig. Wir nehmen mit das Gefühl Teil einer wichtigen Sache gewesen zu sein und hoffen sehr, dass sie all den Verteidigern der Demokratie – um in Kaseks Sprache zu sprechen – Mut macht auf die Strasse zu gehen und ein Gut zu schützen, dass auf dem Rücken unzähliger Opfer entstand: Das deutsche Grundgesetzt.